Eine Ökonomin und ein Ökonom des neoliberalen Thinktanks Agenda Austria haben mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zur Schweizer Klimaklage wenig Freude. Das ist kaum überraschend. Ihre Kritik an der Entscheidung bezieht sich auf zwei Aspekte. Zum einen stoßen sie sich daran, dass der Gerichtshof überhaupt unzureichenden Klimaschutz eines Staates als Grundrechtsverletzung qualifiziert hat. Zum anderen befürchten sie, dass infolge des Urteils das funktionierende EU-Emissionshandelssystem (Emissions Trading System, ETS) aufgegeben und durch teure und fragwürdige Sofortmaßnahmen ersetzt wird (siehe "Klimaschutz mit dem Richterhammer", DER STANDARD, 17.4.2024). Beides ist wenig überzeugend.

Erfolgreich geklagt: Anne Mahrer und Rosmarie Wydler-Wälti von den Schweizer Klimaseniorinnen.
Foto: Reuters / Christian Hartmann

Zunächst zum Juristischen: Jan Kluge und Carmen Treml verspüren augenscheinlich Unbehagen, weil der EGMR ein Menschenrecht auf Klimaschutz kreiert habe, obwohl in der maßgeblichen Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) "Klima" als Begriff nicht einmal vorkomme. Dazu ist anzumerken, dass der EGMR – anders als es der Supreme Court der USA zuletzt mit der US-Verfassung tat – den Text der Konvention nicht starr historisch und auf den reinen Wortlaut beschränkt auslegt, sondern dynamisch und evolutiv interpretiert. Es ist eine ständig wiederkehrende Formel in den Straßburger Urteilen, die besagt, dass die Konvention ein "lebendiges Instrument" sei, "das im Lichte der heutigen Bedingungen interpretiert werden muss".

Daher hat der Gerichtshof aus dem Wort "Privatleben" in Artikel 8 EMRK unter anderem ein Recht auf körperliche Integrität, auf sexuelle Selbstbestimmung und auf Datenschutz abgeleitet. Keiner dieser Aspekte findet sich im Wortlaut der Bestimmung. Und schon seit den 1990er-Jahren judiziert er, dass gravierende Umweltemissionen das Recht auf Privatleben verletzen können. Nachdem in den vergangenen Jahren die Höchstgerichte in den Niederlanden, in Deutschland und in Frankreich einen einklagbaren Anspruch auf Klimaschutz aus ihren nationalen Grundrechten abgeleitet hatten, war das nunmehr gegen die Schweiz ergangene Urteil gewissermaßen die Fortsetzung dieser Entscheidungen.

"Tatsächlich hat sich der Emissionshandel zuletzt als ein äußerst taugliches Instrument erwiesen. Diese Wirksamkeit ist aber nicht systemimmanent."

Zu den Folgen des Klimaurteils: In ihrem Kommentar preisen die Ökonomin und der Ökonom der Agenda Austria die Wirksamkeit des Emissionshandels und sehen die Gefahr, dass die Entscheidung des EGMR dazu führen könnte, dass dieser eingeschränkt oder aufgegeben wird. Die erste Einschätzung teile ich, die zweite halte ich für unberechtigt. Tatsächlich hat sich der Emissionshandel – nach längeren Anlaufschwierigkeiten – zuletzt als ein äußerst taugliches Instrument erwiesen. Diese Wirksamkeit ist aber nicht systemimmanent. Auch die sogenannten ökonomischen Klimaschutzmaßnahmen führen nicht per se zu sinkenden Treibhausgasemissionen. Voraussetzung dafür ist vielmehr, dass ein strikter Reduktionspfad vorgegeben wird. Dieser schreibt für die aktuelle Handelsperiode – von 2021 bis 2030 – ein Minus von 2,2 Prozent pro Jahr vor, was einer Verringerung von 43 Prozent im Vergleich zu den Emissionen im Jahr 2005 entspricht. Dass dieses ambitionierte Ziel in der europäischen ETS-Richtlinie als verbindlich festgelegt wurde, war der politischen Großwetterlage vor rund fünf Jahren und dem politischen Druck der Klimaschutzbewegung zu verdanken. Und zu dieser ist auch die von Kluge und Treml abfällig als "Busladung Pensionistinnen" bezeichnete Schweizer Initiative zu zählen.

Ziele und Pflichten

Wenn die beiden nun befürchten, dass das EGMR-Urteil ein Zurückfahren des ETS zur Folge haben könnte, so haben sie die wesentliche Entscheidungsbegründung des Gerichtshofs verkannt. Dieser qualifizierte die eidgenössische Klimapolitik nämlich deshalb als Grundrechtsverletzung, weil die Schweiz über keine verbindlichen Emissionsreduktionsziele für die Zeit nach 2024 verfügt. Darüber hinaus hielt er fest, dass es nicht ausreicht, wenn das eidgenössische Klimagesetz bloß verlangt, dass die konkreten Klimaschutzmaßnahmen vom Parlament "rechtzeitig vorzuschlagen" sind, im Gesetz aber keinerlei konkrete Handlungspflichten festgelegt werden. Und schließlich verwies der EGMR darauf, dass die Schweiz ihre selbstgesteckten Ziele zur Verminderung der Treibhausgasemissionen in der Vergangenheit nicht erreicht hat. Das Reduktionsziel von minus 20 Prozent bis 2020 im Vergleich zu 1990 konnte trotz Pandemie einzig der dem ETS unterliegende Sektor Industrie einhalten.

Bringt man diese Aussagen des Gerichtshofs auf einen allgemeinen Nenner, so lautet dieser: Die Staaten sind aufgrund der Konvention verpflichtet, verbindliche Reduktionsziele festzulegen, die ernsthaft verfolgt werden und mit konkreten Handlungspflichten für Klimaschutzmaßnahmen verbunden sein müssen. Diese Anforderungen erfüllt das Emissionshandelssystem in jedem Fall. Wer aus dem Urteil eine Kritik am ETS herausliest, unterliegt einem groben Missverständnis oder will den Gerichtshof bewusst missverstehen. Die Aussage von Kluge und Treml, dass vor dem Hintergrund des Urteils jene Staaten wie "Oasen der Menschenrechte" wirkten, "die sich erst gar keine ambitionierten Zwischenziele gesteckt haben", ist für jeden, der das Urteil gelesen hat, nicht nachvollziehbar. Ich bin verleitet, den beiden den letzten Satz ihres Beitrags entgegenzuhalten: "War es das wert?" (Daniel Ennöckl, 23.4.2024)